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DIE GERAUBTE KINDHEIT: Kinder-Wochenheime in der DDR

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DIE GERAUBTE KINDHEIT: Kinder-Wochenheime in der DDR
DIE GERAUBTE KINDHEIT: Kinder-Wochenheime in der DDR

Nun ist es schon 34 Jahre her, dass unser Land jährlich den sogenannten „Tag der Deutschen Einheit“ an diesem Datum begeht. In meinen Augen ist dieser „Feiertag“ vor allem eines: Überflüssig!!! Eine wirkliche „Einheit“ im Volke, zwischen der „Firma“ BRD und dem ehemaligen „VEB“ DDR ist nur schwer erkennbar. Gerade in den vergangenen Jahren mehren sich sogar die Meinungen, dass es in der DDR doch nicht so schlimm gewesen wäre, wie immer wieder behauptet wird. Immer mehr „Ostler“ fühlen sich ganz und gar angegriffen, wenn man negative, aber dennoch reale Dinge über die DDR schreibt. Vor allen sind diejenigen von der damaligen DDR so begeistert, welche erst nach der Wende geboren wurden und den „untergegangenen“ Schurkenstaat nur von Hören und Sagen kennen! Immer wieder erfährt man in Artikeln oder Filmbeiträgen, wie hinterhältig doch die Stasi fungierte, dass chronische Mangelwirtschaft herrschte, wie stressfrei, schlicht und einfach doch der Alltag da „drüben“ war und das es stets ein Highlight war, wenn vor Festtagen die erwarteten Westpakete mit Kaffee, Backzutaten und Fa-Seife ankamen. Jedoch existierten auch Dinge, über die nicht gern berichtet wird, obwohl sich zahlreiche noch lebenden Opfer endlich eine öffentliche Aufarbeitung wünschen, auch um für sich selber den verdienten Seelenfrieden zu finden.

Ein deutsches Kinderschicksal von Mara-Josephine Lützeler von Roden

Nacht für Nacht wachte „Björn“ (Name von der Redaktion geändert) schweißgebadet auf. Nacht für Nacht plagten ihn immer wiederkehrende Albträume. Wie lange schwarze Schatten legten sich diese über seinen Tagesablauf, schon fast sein ganzes Leben lang, begleitet von Ängsten, Selbstzweifel, Schuldkomplexen und Wut.

„Björn“ ist heute 55 und sein trauriges Schicksal teilt er mit unzähligen weiteren betroffenen leidenden Seelen, dabei wünscht er sich, wie viele andere ebenso, nichts weiter als Ruhe und Frieden.

„Björn“ hat mich zu sich eingeladen. Er wohnt heute in einer kleinen Stadt, weit weg von dem Ort seiner Kindheit im heutigen Sachsen-Anhalt, mit der er faktisch nichts mehr zu tun haben möchte.

„Wirkliche Gerechtigkeit und ehrliche Aufklärung gibt es nicht in diesem Land.“, stellte er als erstes zu Gesprächsbeginn fest. Wie Recht er doch hat, dachte ich bei mir, denn meine persönlichen Erinnerungen an die untergegangene DDR sind auch eher negativer Art.

„Ich kann es nicht verstehen, dass für viele Opfer, welche mehrere Generationen vor uns lebten, heute noch überall zahlreiche Denkmäler, Stolpersteine und sonstige Gedenktafeln im Land stiftet und aufstellt, aber die noch lebenden Opfer eines Unrechtsstaates von unserer Generation vergisst. Man tut einfach so, als würden diese schwer geplagten Wesen nicht existieren und gibt den Leidtragenden somit das Gefühl, dass ihr trauriges Schicksal nicht erwähnenswert sei. Im Gegenteil: es werden sogar noch Filme wie „Das Leben der Anderen“ preisgekrönt, wo man die eigentlichen Opfer des ehemaligen DDR-Regimes verhöhnt, in dem man die Reue eines verdammten und kommunistisch-überzeugten Stasi-Manns stark gefühlsbetont darstellt. Und wenn ich dann die heutige Situation in diesem Land mir betrachte, dann sollte auch jeder begreifen, in welche Positionen die ehemaligen 70.000 Stasi-Leute gesteckt worden sind und dass wir inzwischen von Kommunisten beherrscht werden. Sorry, aber bei diesem Thema verstehe ich keinen Spaß und könnte stattdessen nur noch vor Wut platzen!“, erzählte „Björn“ mit gerunzelter Stirn und traurigem Blick weiter.

Mein Gegenüber strahlt überwiegend pure Lebensfreude aus und macht einen fröhlichen Eindruck. Man merkt ihm das brutale Schicksal aus seinen Kindertagen überhaupt nicht an.

Meine erste Frage an „Björn“ war, was waren diese Kinder-Wochenheime in der DDR.

„Björn“:         „In Wochenheimen wurden Kleinkinder im Alter von 6 Wochen bis 3 Jahren untergebracht. Sie wurden in der Regel Montag in der frühe dort abgegeben und erst Freitag spät nachmittags oder am Samstag wieder abgeholt. Die Kleinen wurden dort die ganze Woche über regelrecht abgestellt, wie ein Paar Lackschuhe, die man nur sonntags aus dem Schrank holt. Die Gründe für die Unterbringungen waren vielfältig. Dort gab es Kleinkinder von minderjährigen Müttern, die von den entsprechenden Organen/Behörden erpresst wurden ihren Säugling dort abzugeben, um erst die eigene Lehrausbildung zu absolvieren. Es gab auch Mütter, die ihre Kleinen dort abgeben mussten, weil sie in ihren Betrieben und/oder durch Schichtarbeit unabkömmlich waren. Aber es wurden auch Säuglinge dort untergebracht, deren Mütter zu Haftstrafen verurteilt wurden. Deren Kleinkinder wurden dann an den Wochenenden von nahen Verwandten, in der Regel Omas und Opas abgeholt, um den Kleinen wenigstens an den Wochenenden und zu Feiertagen ein halbwegs vernünftiges zu Hause zu geben. Man schätzt, dass von 1950 bis 1992 etwa 200.000 bis 600.000 Säuglinge in der DDR dieses Trauma erleben mussten. Viele dieser ehemaligen Heimkinder leiden noch heute unter den Folgen des Mutterliebe-Entzugs. Viele von denen können heute noch immer nicht Liebe annehmen oder eigene Liebe an andere Personen weitergeben. Ich las und hörte von zahlreichen Fällen, dass Betroffene noch nicht einmal ihre eigenen Kinder lieben können! Ist das nicht alles grausam und gruselig?“.

Nach dieser Antwort rang ich um Fassung und musste erst einmal tief Luft holen, denn irgendetwas schnürte mir den Hals zu. So viel Offenheit und Ehrlichkeit hätte ich mir nicht so schnell von einem „Traumatisierten“ erhofft, daher war ich kurzzeitig komplett neben der Spur und stark ergriffen.

Wie sah der Tagesablauf in solch einem Wochenheim, auch Wochenkrippe aus, fragte ich „Björn“.

„Björn“:         „Ich habe dazu einen Tagesplan im Internet gefunden. Wie es in solchen Institutionen üblich war und ist, folgte alles einem regelmäßigen Ablauf. Es wurde keine Rücksicht auf das einzelne Kleinkind genommen und auf dessen individuelle Eigenschaften. Wie kleine Soldaten wurden alle Kinder in eine „Uniform“ gesteckt, wo es keine Abweichung geben durfte, um den Zeitplan nicht zu gefährden.“

Bild 1: Mustertageseinteilung für Wochenkrippe und Dauerheim. Quelle: Eva Schmidt-Kolmer, Die Pflege und Erziehung unserer Kinder in Krippen und Heimen. Berlin 1956, S. 95.
Bild 1: Mustertageseinteilung für Wochenkrippe und Dauerheim. Quelle: Eva Schmidt-Kolmer, Die Pflege und Erziehung unserer Kinder in Krippen und Heimen. Berlin 1956, S. 95.

„Björn“ erzählte weiter: „Es heißt zwar immer, dass man sich in der Regel erst ab einem Alter von etwa drei Jahren zurückerinnern könnte, jedoch kann ich viel weiter zurückdenken, als es meinen „Eltern“ heute lieb war/ist. Ich kann mich entsinnen, dass ich dort am Anfang der Woche in dem Wochenheim meistens im Dunklen abgegeben wurde und das mich dann Tage später sehr oft meine Großeltern nach dem „Mittagsschlaf“ abgeholt hatten. Sie brachten mir zur Abholung immer mein Lieblingsplüschtier mit, an das ich mich heute noch erinnern kann. Es war ein Plüschhund mit großen wuscheligen Ohren , den die Zwillingsschwester meiner Oma aus Winsen an der Luhe im Paket geschickt hatte, wie ich später erfuhr. Im Alter von vier Jahren bekam ich leider die Ruhr und lag seinerzeit mehr als drei Monate auf der Quarantänestation, in der Poliklinik Süd. Bei der Entlassung aus dem Krankenhaus nahm man mir dieses Plüschtier weg, wegen der Ansteckungsgefahr. Als ich erfuhr, dass mein Hündlein nach meiner Entlassung mit all meinen Anziehsachen verbrannt wurde, konnte ich mich tagelang nicht beruhigen und habe lange Zeit noch wegen des Verlustes geweint. Das alles sehe ich heute noch vor mir, als wäre es erst letzte Woche geschehen! Vieles von meinen Erinnerungen konnte ich erst vor ein paar Jahren richtig einordnen, als ich die Wahrheit über meine Kindheit erfuhr. Es wurde alles seitens meiner „Eltern“ dafür getan, dass ich meine eigentlich traurige Kindheit vergesse. Man versuchte mich regelrecht mit einer Art Gehirnwäsche und zahlreichen Schockmaßnahmen zu manipulieren. Man redete mir sogar zum Beispiel ein, dass, wenn man sich ab einem gewissen Alter zu oft an die Kindheit erinnert, wäre dies ein Zeichen dafür, dass man bald sterben würde. Mit solchen und ähnlichen Tricks hat man allesmögliche versucht, damit ich mich niemals zurück erinnern kann, um niemals auf dieses Geheimnis zu stoßen. Ja ich bin sehr traurig darüber, was man mir antat, dass faktisch meine ganze Vergangenheit eine Lüge war. Traurig und gleichzeitig enttäuscht bin ich darüber. Jedoch kann ich nicht ewiglich in der Vergangenheit leben und versuche daher stets nach vorn zu schauen, auch wenn es Tage gibt, wo dies mir sehr schwerfällt!“

Mara:             „Wie und wann hast du erfahren, dass du in so einem Wochenheim einen Großteil deiner Kindheit verbracht hast oder besser gesagt verbringen musstest?“

„Björn“:         „Oh, das ist eine lange Geschichte. Ich versuche mich kurz zu fassen. Irgendwie, bitte frag mich nicht warum, denn ich könnte es gar nicht richtig erklären und beschreiben, irgendwie spürte ich schon recht jung an Jahren, dass bei mir irgendetwas nicht stimmt. Ich fühlte mich immer wie ein Fremdkörper in meiner Familie. 1971, ich war gerade drei Jahre alt, kam mein Bruder Lars zur Welt und 1974 mein kleinerer Bruder Ben. Ich hatte von Anfang an das Gefühl, besser gesagt, schon bei Zeiten fühlte ich, als würde man meine Geschwister bevorzugen, also anders behandeln. Irgendwie war ich immer das dritte Rad am Wagen, wie ein Holzsplitter im Finger, wie man so schön sagt. Zugegeben, dass könnte man nun auch damit begründen, das ich als ältester Bruder eifersüchtig gewesen wäre, weil nun den Kleineren mehr Zeit geschenkt werden würde. Genau das versuchte mir auch meine Mutter ein Leben lang einzureden. Ich erinnere mich an eine Situation im Sommer 1975. Sonntags ging unser Vater mit uns 3 Jungen immer nach dem Frühstück spazieren, entweder in den Wald, in die Stadt und manchmal auch in die Kirche. In der Zeit, wo wir unterwegs waren, kümmerte sich unsere Mutter um den Haushalt und das Sonntagsessen. Wie gesagt war es an einem Sonntagmorgen im Sommer 1975, ich war gerade 6 Jahre alt und kurz vor der Einschulung. Wir gingen am Ufer der Saale spazieren, als es wieder einmal eine kleinere Streiterei zwischen Lars und mir gab. Da brüllte unser Vater mich an und sagte garstig, dass ich mich nicht immer mit meinen Geschwistern streiten soll. Er gab mir einen Schubs und ich landete in einem großen Bogen mit kurzer Hose und T-Shirt in einem riesigen Busch voller Brennnesseln. In manch einer Nacht spüre ich in meinen Albträumen heute noch das brennen dieser Pflanzen am gesamten Körper. Zu Hause angekommen und noch immer weinend erzählte ich unserer Mutter, was mir geschehen war. Sie sah ihren Mann an, er schüttelte den Kopf, als wenn ich mir das ausgedacht hätte. Dieser Sonntag, im Sommer 1975 war der Tag, an dem ich zum ersten Mal so richtig spürte, dass zu Hause keiner war, der wirklich für mich da war. An diesem Tag fühlte ich mich zum ersten Mal so richtig ungeliebt! Wenn ich mich heute an diesen Tag erinnere, dann ist es sofort wieder da, dieses Gefühl der Ohnmacht, der Machtlosigkeit und der großen Leere. Dieses Gefühl des nicht geliebt sein und sogar von der eigenen Familie abgestoßen zu werden verstärkte sich in Laufe der Jahre. Immer wenn ich meine Eltern darauf ansprach, sagte man zu mir „Das bildest du dir nur ein.“ oder „Du spinnst doch.“ Wie bereits gesagt, das lief viele Jahre so ab.“

An dieser Stelle mussten wir eine kurze Pause machen, da „Björn“ auf einmal die Worte fehlten. Vermutlich erlebte er dieses Gefühl von damals noch einmal. Später erzählte er mir, dass er solche Trigger-Situationen eigentlich meidet.

Nach einer Weile erzählte „Björn“ weiter: „Im Sommer 1988 übersiedelten meine Eltern in den Westen. Heute weiß ich, dass sie abgewartet hatten, bis ich volljährig war, um die Ausreise gemeinsam mit meinen zwei Brüdern zu beantragen. Ich war zu dieser Zeit gerade bei der Armee, bei der NVA. Ich meldete mich freiwillig für drei Jahre Wehrdienst, als Panzerfahrer, ein Unteroffizier auf Zeit. Der Grund für meinen freiwilligen Militärdienst war zum einen, dass ich direkt mit achtzehn Jahren eingezogen wurde und zum anderen wollte ich in der DDR Zeichen- und Puppentrickfilm-Animateur in Potsdam Babelsberg studieren. Mein Traum war es, solche phantastischen Filme in der Art von „Sindbad der Seefahrer“ oder „Kampf der Titanen“ zu schreiben und zu machen. Mein Vorbild war der Spezialist und Sindbad-Schöpfer Ray Harryhausen, der 2013 verstorben war.

Jedoch kam letztendlich alles ganz anders, wie es halt so im Leben läuft. Ich heiratete 1989 und im Jahr zuvor wurde mein Sohn geboren. Dann kam der Mauerfall, wir zogen in den Westen, kauften ein Zweifamilienhaus und ich holte die Schwiegereltern in unser Haus. 2000 kam die Trennung und drei Jahre später die Scheidung. Inzwischen gab es auch einen enormen Krach zwischen meinen „Eltern“ und Großeltern, bei den ich faktisch groß wurde. Meine „Mutter“ erzählte mir von unglaublichen Forderungen seitens meiner Oma, welche ich irgendwie nicht nachvollziehen konnte. Ich wurde törichterweise so sehr von meinen „Eltern“ beeinflusst, dass ich mich vorläufig nicht mehr bei meinen Großeltern meldete und das jahrelang, was ich heute so sehr bereue! Man sagte mir seitens der Eltern nicht einmal, als meine Großeltern starben und man gab mir auch nicht Bescheid, dass ich hätte zur Beerdigung gehen können. Wie gesagt, man spielte uns miteinander aus. Ich hatte im Anschluss noch zwei Beziehungen, die jedoch auch suboptimal verliefen. Und immer mehr zweifelte ich an mir, warum ich nicht beziehungsfähig sei. Und dann waren da noch die fürchterlichen Albträume, inzwischen fast jede Nacht, welche ich nicht zuzuordnen wusste.

Inzwischen hielten mich diese Albträume so abartig in ihren Klauen gefangen, dass ich mich regelrecht gegen diesen „Schlaf“ wehrte. Ich wollte einfach nicht mehr schlafen, aus Angst vor den nächtlichen Visionen. Im Herbst 2018 dachte ich, ich muss etwas gegen diese Träume unternehmen, sonst drehe ich noch komplett am Rad. Ich machte, bitte fragen Sie mich nicht warum, einen Termin bei einer Naturheilerin und Seherin, mit einem sehr guten Ruf. Bei der darauffolgenden Sitzung sagte sie mir Dinge, welche sie nicht wissen konnte und welche alle Sinn machten. Sie gab mir einen Rat: ich solle mir Dinge ansehen, welche mich bereits mein ganzes Leben begleiten, welche nur mir gehören. Sie riet mir, dass mein erster Gedanke bei dieser Entdeckung mir Ruhe schenken und diese Rastlosigkeit beenden wird.  Von welchen „Dingen“ sie sprach, war für mich anfangs ein Rätsel, bis es Klick in meinem Kopf machte! Der Impf- und Versicherungsausweis sind die einzigen Dinge, welche mich mein Leben lang begleitet haben, fiel mir bei der Rückfahrt ein. Zu Hause kramte ich diese Dokumente hervor, schaute sie mir in aller Ruhe an und bekam den Schock meines Lebens! „Ihr könnt mir mal!“, war mein allererster Gedanke. Auf meinen Ausweisen waren Stempel von einer Wochenkrippe, in der ich bis zu meinem 3. Lebensjahr wöchentlich abgegeben wurde. Der Schock und vor allem die Enttäuschung saßen tief, sogar sehr tief.

Am darauffolgenden Tag, als ich mich etwas gefangen hatte, rief ich meine Eltern an und konfrontierte sie mit den Tatsachen. Und wie ich schon befürchtet hatte, stritten sie alles ab, nach dem üblichen Motto: „Du bildest dir das nur ein!“. Darauf stand für mich fest, dass ich den Kontakt von meiner Seite einschränke und mich nicht mehr bei ihnen melden würde. Wenn sie mit mir reden wollen, bin ich gern bereit zu verzeihen, aber für mich stand auch fest, dass ich niemals vergessen und vergeben werde.

Ein halbes Jahr später sagte mir ein Cousin, dass meine Eltern überall in der Familie erzählt haben, dass ich krank geworden sei und eigentlich einen Psychiater bräuchte. Ich würde angeblich regelmäßig Drogen nehmen und nur noch „Müll“ von mir geben. Ich sei nicht mehr der Herr meiner Sinne!

Nun verstand ich auch, warum sich meine Eltern darum gekümmert hatten, dass ich mich von den Großeltern fernhalte. Sie hatten ganz einfach nur Angst, dass diese mir die „Wahrheit“ meiner Kindheit erzählen.

Noch heute frage ich mich, warum ich nicht viel früher diese Stempel auf den Impf- und Sozialversicherungsausweisen gesehen habe. Aber es ist wie es ist!

Für mich ist diese traumatische Kindheitserfahrung so gut wie abgeschlossen, so dass ich heute ein relativ normales Leben führen kann. 2019 lernte ich eine Frau kennen und zum ersten Mal in meinem Leben kann ich Liebe annehmen und vor allem auch geben ohne Wenn und Aber. Ja und die Albträume sind inzwischen fast verschwunden. Den Rest werde ich auch noch in den Griff bekommen! Und wenn dann mal, gerade an so grauen oder verregneten Tagen, in mir die alten Gedanken aufsteigen, dann nehme ich mir Feder, Tusche und Papier oder die Acrylfarben und eine Leinwand und halte so meine Gedanken fest.“.

Bild 2: Verschiedene Bilder von "Björn", welche er zur Trauma-Aufarbeitung angefertigte
Bild 2: Verschiedene Bilder von „Björn“, welche er zur Trauma-Aufarbeitung angefertigte

Nur 21 Prozent der Wochenkrippenkinder können in ihrem Leben eine sichere Bindung aufbauen. Fast alle Wochenkinder sind von psychischen Störungen betroffen! Das ist doppelt so häufig wie der Durchschnitt der Bevölkerung![1]

Bild 3: Einfluss des Tages- bzw. Wochenaufenthaltes der Kinder auf ihre Entwicklung. Quelle: Anm. 25, S. 137.
Bild 3: Einfluss des Tages- bzw. Wochenaufenthaltes der Kinder auf ihre Entwicklung. Quelle: Anm. 25, S. 137.

Bindungserfahrungen in der frühen Kindheit beeinflussen die Entwicklung eines Kindes bis ins Erwachsenenalter. Die damalige mehrtägige Trennung der Kinder von ihren Eltern durch die Unterbringung in einer Wocheneinrichtung hat sich unmittelbar nachteilig auf das Wachstum und den Kompetenzerwerb der Kinder ausgewirkt. Inwieweit dies weitere langfristige Auswirkungen auf die Biografie der Betroffenen hatte, dem gehen Forschungsprojekte nach.[2]

Wochenkrippen sollten Eltern vor allem in der Zeit nach dem Krieg Beruf und Verdienst ermöglichen. In der Aufarbeitung von Heimerfahrungen sind sie bislang ein weißer Fleck!

Verheerend ist dabei auch, dass das Thema nach wie vor in Schweigen gehüllt ist: Sowohl die Eltern, als auch frühere Krippenkinder sprechen aufgrund der Scham nicht darüber und glorifizieren die Vergangenheit. Viele leben mit den Traumata, die ihre heutigen Beziehungen schädigen, denn ungeliebte Kinder können erst im späteren Leben mühsam erlernen, wie gesunde zwischenmenschliche Beziehungen funktionieren.

Frühkindliche Isolation und das Fehlen von grundlegender Nähe und einfachsten Dingen wie Augenkontakt und Berührung sind verheerend für unsere Gesundheit. Sie hinterlassen Traumata, die später aufgearbeitet werden müssen, wenn nicht das Leben vergällt und vergiftet gelebt werden soll.[3]

Ich bedanke mich recht Herzlich bei „Björn“ für die ehrlichen Antworten und die Schilderung seines Traumata. Er hofft mit seinem Schicksal anderen Opfern Mut zu machen, über eigene Schicksalsschläge zu berichten, damit Betroffene wissen, dass sie nicht allein sind.


Quellen:

[1]              https://www.nordkurier.de/regional/brandenburg/schlimme-erinnerungen-an-wochenkrippen-in-ddr-wurden-wach-2923654
[2]              https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/262920/wochenkrippen-und-kinderwochenheime-in-der-ddr/
[3] https://regiohealth.news/article/das-trauma-der-krippenkinder-der-ddr

 Abbildung:

Titelbild: Titelbild: https://pixabay.com
Bild 1:      https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/262920/wochenkrippen-und-kinderwochenheime-in-der-ddr/
Bild 2:      Alfred-Walter von Staufen
Bild 3:      https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/262920/wochenkrippen-und-kinderwochenheime-in-der-ddr

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2 Kommentare

  1. Sehr geehrte Damen und Herren,
    es fällt mir schwer diesen Unsinn zu lesen „von 1950 bis 1992 etwa 200.000 bis 600.000 Säuglinge“.
    Ich wusste nicht das die DDR bis 1992 existierte. Das muss 1962 heißen. Daraus folgt das „Björn“ wohl 1959 oder 1960 geboren sein muss, er also haute bereits deutlich über 60 ist.
    Was den Fakt an sich betrifft (meine kleine Schwester ist 1959 in einer solchen Einrichtung an Angina verstorben) so war es keineswegs Pflicht seine Kinder dort abzugeben. Viele Eltern taten dies damit beide arbeiten gehen konnten. Man sollte daher eher mit den Eltern hadern als mit den Einrichtungen.
    Karl

    • Hallo Karl,

      vielen Dank für Ihr Interesse an unserem Artikel, als auch für Ihren Kommentar, den wir wie folgt beantworten möchten:
      Leider ist es kein Unsinn, das von 1950 bis 1992 etwa 200.000 bis 600.000 Kleinstkinder in diesen Wochenheimen untergebracht wurden. Bitte folgen Sie hierzu diesen Link: https://www.nordkurier.de/regional/brandenburg/schlimme-erinnerungen-an-wochenkrippen-in-ddr-wurden-wach-2923654.
      Ebenso wurde NICHT in diesem Artikel behauptet, dass die DDR bis 1992 existiert hätte, sondern dass in der genannten Zeit Säuglinge in solchen Einrichtungen „erzogen“ wurden! Wenn man etwas anderes aus diesem Satz herausliest, war eventuell die Formulierung nicht eindeutig!
      Ebenso wurde in unserem Artikel nicht behauptet, dass es Pflicht gewesen sei, dort seine Kleinen abzugeben, sondern es gab übermäßig viele Fälle, wo Mütter zu dieser Unterbringung ihres Nachwuchses gezwungen wurden!
      Bitte zu diesem Thema einmal richtig recherchieren, dann findet man sogar verstörende Berichte, wie mit den Kindern in solchen Einrichtungen umgegangen wurde!
      Diese Wochenkrippen entstammen einer Idee der damaligen Sowjetunion. Schon damals wusste man, wozu es auch zahlreiche wissenschaftliche Studien gibt, dass solche Wochenkrippen keineswegs im Sinne der Familien waren, sondern einer politischen Agenda dienten!
      Kinder sollten immer in der Obhut der Familien bleiben, ist unsere Meinung. Dies hat nicht mit „völkischer Gesinnung“ zu tun, sondern mit gesundem Menschenverstand!

      Mit freundlichen Grüßen
      M.J. Lützeler von Roden & A.W. von Staufen

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